Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen:
Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde

Susanne Moritz
Regensburg

Schon seit mehreren Jahren steht die Pflege – und insbesondere die Reformbedürftigkeit der Pflegeversicherung – in Deutschland in der öffentlichen Debatte. Angesichts der schon aktuell vorhandenen Probleme ist aufgrund der prognostizierten demografischen Entwicklung eine Verschärfung der Lage zu erwarten. Allen Verantwortlichen ist die Notwendigkeit einer nachhaltigen Reform der Pflegeversicherung bewusst. Die Regierungen der letzten Jahre konnten sich jeweils nur auf die Durchführung geringfügiger Reformen einigen, die eine grundlegende Neuausrichtung des Systems der Pflegeversicherung nicht zu bewirken vermochten. Eine nachhaltige Reform scheint umso dringlicher, als in den Medien gehäuft von menschenunwürdigen und untragbaren Zuständen in den Pflegeheimen berichtet wird. Geschildert werden neben einer völlig unzureichenden pflegerischen Versorgung der Heimbewohner auch erhebliche Gewaltanwendungen gegenüber den Pflegebedürftigen.
Unter Berücksichtigung dieser Missstände führen die Untersuchung der Ursachen und eine anschließende Würdigung in verfassungsrechtlicher und verfassungsprozessrechtlicher Hinsicht zu folgenden Ergebnissen:

I. Das Vorhandensein von, mitunter gravierende Ausmaße annehmenden, Missständen in einer Vielzahl von stationären Pflegeeinrichtungen in Deutschland ist empirisch belegbar. Die Lebensbedingungen vieler Menschen in den Pflegeheimen sind lebensunwert; der Pflegezustand sowie die Pflegequalität sind zu einem erheblichen Teil mangelhaft. Darüber hinaus lässt sich eine regelmäßige Anwendung von Gewalt gegenüber den Pflegebedürftigen nachweisen.

II. Die Ursachen hierfür liegen in erster Linie in den gesetzlichen Rahmenbedingungen der Pflege. Die Finanznot der Pflegekassen steuert in weitem Ausmaß unmittelbar und mittelbar Qualität und Umfang der Pflegeleistungen. Folge ist die geringe Vergütung der Pflegeheime, deren defizitäre Personalausstattung und schlechte Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal. Systematische Fehlanreize verschärfen die mangelhafte pflegerische und medizinische Versorgung der Pflegebedürftigen zusätzlich. Die unzulängliche Kontrolle der Pflegeeinrichtungen stärkt die Aufrechterhaltung dieser Pflegepraxis. Die Behebung dieser systematischen Ursachen ist zuvörderst Sache des Gesetzgebers.

III. Die belegbaren Missstände in den Pflegeheimen verletzen die Grundrechte der stationär untergebrachten Pflegebedürftigen. Zwar erfolgt die Pflege der Menschen in den Pflegeeinrichtungen regelmäßig durch private Dritte; eine Zurechenbarkeit dieser Grundrechtsverletzungen an den Staat ergibt sich aber aus dessen Schutzpflichten, die ihm gegenüber den Pflegebedürftigen obliegen und die er durch seine Untätigkeit verletzt.

IV. Sofern die Regierung weiterhin untätig bleibt, ist eine Verbesserung der Zustände in den Pflegeheimen nicht zu erwarten. Eine aussichtsreiche Möglichkeit, um der menschenunwürdigen Situation abzuhelfen, stellt ein Vorgehen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen gesetzgeberisches Unterlassen dar. Angesichts der hohen Wertigkeit der betroffenen Grundrechte und der bereits eingetretenen Verletzung derselben scheint ein Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts auch unter funktionell-rechtlichen Aspekten legitim. Dabei erweist sich ein Vorgehen mittels Verfassungsbeschwerde als erfolgversprechend. In Anlehnung an die bisherige Schutzpflichten-Rechtsprechung und aufgrund einer Analyse inhaltlich vergleichbarer Urteile scheint eine Ausweitung der Schutzpflichtendogmatik auf den Fall der Pflegebedürftigen nicht unwahrscheinlich. Denkbarer Entscheidungsinhalt ist die Verfassungswidrigerklärung gesetzgeberischen Unterlassens in Verbindung mit einem für den Gesetzgeber verpflichtenden, inhaltlich detaillierten Handlungsauftrag unter Anordnung von Übergangsrecht. Die Möglichkeit der Klageerhebung steht, unter Annahme einer generellen Beschwerdebefugnis, sowohl den aktuell betroffenen Heimbewohnern als auch allen potentiell künftig Betroffenen offen.


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