Fesselungen müssen nicht sein: Alternativen gibt es genug!

Rolf D. Hirsch
Bonn

Ärzte und Pflegekräfte geraten im Alltagsstress leicht in die Versuchung, eine kriti-sche Situation kurzfristig mit Fesselung eines Patienten/Bewohners zu bewältigen. Doch lassen Fesselungen (Fixierungen) auf eine eher gedankenlose und rein „sich absichernde“ Handlungsweise schließen. Sie als notwendiges „alternativloses“ Alltagsphänomen in Klinik- und Alteneinrichtungen zu sehen oder gar als therapeutische Maßnahme zu bezeichnen, ist kritisch zu hinterfragen. In der Regel gibt es genügend Möglichkeiten und Konzepte, diesen Maßnahmen zu vermeiden. Sie lösen Leid, Not, Hilflosigkeit sowie Verzweiflung aus und können erhebliche gesundheitsschädliche Folgen bis zum Tod bei den Patienten/Bewohnern haben (Berzlanovich et al. 2012).

Leitlinien (AWMF 2010) und evidenzbasierte Vorgaben zum Umgang mit Zwang und Gewalt sind notwendig und sinnvoll für Schulungen, Sensibilisierung und Problemdarstellung, helfen aber in der Praxis erst dann etwas, wenn sie lebendig, kreativ sowie „menschenorientiert“ umgesetzt werden. Spezifische Leitlinien welche die Besonderheiten alter Menschen berücksichtigen, gibt es derzeit allerdings nicht. Hilfreich sind die „Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der Altenhilfe“ (BMG 2008).

Wenige Untersuchungen gibt es zur Häufigkeit und zu den Ursachen von Fesselungen. Aus einer älteren -aber immer noch aktuellen- Untersuchung von 27 gerontopsychiatrischen Abteilungen geht hervor, dass in 25% der Fälle wenigstens eine bewegungseinschränkende Maßnahme durchgeführt wurde (Hirsch & Kranzhoff 1996). Fixiert wurde hauptsächlich „vorsorglich“ wegen Sturzgefahr (48,2%), Schwindel/Gangunsicherheit u.ä. (27,8%) sowie quälende/rastlose Unru-he/Agitiertheit (15,7%). Aus einer Längsschnitt-Untersuchung in Hamburger Pflegeheimen wird berichtet, dass bei 40% der Bewohner innerhalb eines Jahres eine freiheitsentziehende Maßnahme durchgeführt wurde (Meyer & Köpke 2008). Festgestellt wurde, dass nur bei ca. 54% eine rechtlich gültige Genehmigung vorlag. Bei allen diesbezüglichen Untersuchungen fällt die sehr große Spannbreite zwischen den Einrichgtungen auf.

Ein wichtiger Schritt ist es, dass Mitarbeiter nicht nur an einer Supervision bzw. Fallbesprechung und ethischen Konsilien teilnehmen, sondern auch deeskalierende Maßnahmen erlernen. Dies geschieht am ehesten in einem Deeskalationstraining (Wesuls et al. 2008), welches in wenigen Einrichtungen schon standardmäßig eingeführt ist. Erlernt werden kann: frühzeitig und angemessen zu reagieren, eine sensible Einschätzung der Situation, die Beachtung von Sicherheitsaspekten, das Überprüfen des eigenen Auftretens („Opferhaltung“ – „Machthaltung“), ein respektvoller, empathischer, anständiger und würdevoller Umgang, eigene Wut, Ärger, Aggression und Hilflosigkeit zu spüren und zu bewältigen sowie die Vermeidung von Machtkämpfen.

Zur Vermeidung von Fesselungen bedarf es eines mehrdimensionalen Konzeptes, welches von allen Mitarbeitern getragen werden muss. Entscheidend ist, dass die Institutionsleitung Fesselungen ächtet. Folgende Aspekte sind einzubeziehen:
- Schulung der Mitarbeiter wie: Problematisierung von Fixierungen (Fesselungen),
rechtlichen Vorschriften, Selbsterfahrung mit Fixierung, Problematisierung von Medikamenten einschl. Psychopharmaka, eigene Gefühle bei bisherigen Fixierungen von Patienten, Schulung von professioneller Fixierung, Besprechung von Situationen, in denen bisher fixiert wurde und Erarbeitung von Alternativen unter Einbeziehung der Besonderheiten des einzelnen Patienten (Hilfsmittel: Rollenspiel), Wille des Patienten in Strategien einbeziehen, mögliche Provozierung durch Mitarbeiter ansprechen, Professioneller Umgang mit Fixiermittel, Dokumentation und Evaluation
- Trainings: zur Deeskalation, Sturzprophylaxe und Mobilisation
- Hilfsmittel: höhenverstellbare Betten, Hüftprotektoren, Stoppersocken, Intelligentes Licht, barrierefreie Station, Haltegriffe im Flur, ausreichende Lichtverhältnisse
- Krankengymnastik und Bewgungstherapie
- Kontinuierliche Fallbesprechung: wöchentliche Besprechung im Team/Klinik von Fixierungen und deren Problematisierung, Psychologische Intervention bei aktueller Fixierung von Patient/Bewohner und Team
- Umgang mit Fixiermittel: nach jeder Fixierung Entfernung der Fixiermittel aus dem Raum
- Unterstützende Maßnahmen wie Ergo-, Tanz- und Musiktherapie, Spaziergänge, Lauftraining mit Einzelpatienten, Einbeziehung von Angehörigen und rechtlichen Betreuern.

Diese Themenbereiche sollten in Aus- Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen Ein-gang finden. Kontinuierliche Schulungen während der Berufsausübung sind notwendig, um eine Sensibilisierung sowie ein Problembewusstsein aufrecht zu erhalten und der Gleichgültigkeit entgegenzuarbeiten.

Gewalt -hierunter zählen die Fesselungen- beginnt im Kopf! Es geht um eine grundsätzliche Einstellungsveränderung. Fesselungen sollten in der Gerontopsychiatrie nur eine extreme Ausnahme sein. In Pflegeheimen sind sie, wie sich gezeigt hat, überflüssig.

Literatur:

AWMF AWMF (2010): Therapeutische Maßnahmen bei aggressivem Verhalten in der Psy-chiatrie und Psychotherapie, Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Psychoatrie, Psy-chotherapie und Nervenheilkunde S2, www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/038-022.htm (auf-gesucht: 02. 04. 2013)
Berzlanovich, A.M., Schöpfer, J., Keil, W. (2012): Todesfälle bei Gurtfixierungen. Deutsches Ärzteblatt 109 (3): 27-32.
BMG (2008): Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe. BMG: Berlin.
Hirsch R.D., Kranzhoff E.U. (1996): Bewegungseinschränkende Maßnahmen in der Geron-topsychiatrie. Teil I u. Teil II. Krankenhauspsychiatrie 7, 99-104 u. 155-161.
Meyer G., Köpke S. (2008): Freiheitseinschränkende Maßnahmen in Alten- und Pflegehei-men: eine multizentrische Beobachtungsstudie. In Schaeffer D., Behrens J. & Görres St (Hg.) Optimierung und Evidenzbasierung pflegerischen Handelns. Juventa: Weinheim München, 333-349.
Wesuls. R., Heinzmann, Th., Brinker, L (2008): Professionelles Deeskalationsmanagement (ProDeMa). www.prodema-online.de

 

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