Suchtgefahren von (Opiod-) Analgetika – unterschätzt oder aufgebauscht?

Dirk K. Wolter,
Fachbereich Gerontopsychiatrie, Inn-Salzach-Klinikum, Wasserburg am Inn

Opiate werden mittlerweile in doppelter Hinsicht kritischer betrachtet als noch vor einigen Jahren: sie sind weder so effektiv wie erhofft noch ist das Suchtrisiko so gering wie angenommen.
Die moderne naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin reagiert auf (chronische) Schmerzen oft mit einer Eskalation von apparativer Diagnostik und Pharmakotherapie, die aber nicht immer zu einem befriedigenden Ergebnis führt: als „Koryphäen-Killer-Syndrom“ sind chronische Schmerzen deshalb schon seit langem bekannt.
Vielfach wird eine Unterversorgung von Schmerzpatienten mit wirksamen Analgetika beklagt; das Abhängigkeitsrisiko sei bei bestimmungsgemäßer Anwendung sehr gering, unzureichend behandelte Schmerzen führten zu einem Verlangen nach Analgetika, das als Suchtproblem fehlinterpretiert würde („Pseudoabhängigkeit“). Andererseits entsteht klinisch oft der Eindruck, dass starkwirksame Analgetika fehlindiziert verordnet werden und sich nachfolgend eine Abhängigkeit entwickelt. Abhängigkeit von Schmerzmitteln ist jedoch schwer zu fassen und wird auch häufig in Studien nicht klar definiert, hilfsweise werden oft die unscharfen Kriterien „aberrant drug-related behaviors“ (ADRB - suchtmittelassoziierte Verhaltensauffälligkeiten) herangezogen. Allemal hat die Verordnungshäufigkeit von Opiaten erheblich zugenommen – in den USA aber auch die Häufigkeit von Überdosierungsnotfällen und Todesfällen.
Während weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass Tumorpatienten auch unter hochdosierter Opiattherapie praktisch nicht abhängig werden, ist der Einsatz von Opiaten bei nicht tumorbedingten Schmerzen offenbar riskanter und umstritten. Die S3-Leitlinie über die Langzeitanwendung von Opioden bei Nicht-Tumorschmerzen (LONTS) hat die kontroverse Diskussion erneut angefacht.
Ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit liegt bei Patienten mit eigener Suchtvorgeschichte und positiver Familienanamnese vor. Bei Patienten ohne Suchtanamnese ist die Gefahr einer de-novo Opiatabhängigkeit verschwindend gering. Das Risiko liegt also weniger im Medikament als in mangelnder Sorgfalt seitens der verschreibenden Ärzte. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass durch das Nachwachsen von Kohorten mit einer höheren Prävalenz von Substanzmissbrauch und steigende Lebenserwartung bei verbesserter medizinischer Versorgung immer mehr ältere Suchtkranke an Gesundheitsproblemen leiden, die den Einsatz stark wirksamer Schmerzmittel erfordern.


Literatur:

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