Jenseits von Sektoren, Säulen und Segmenten – Demenzversorgung neu denken

Susanne Schäfer-Walkmann,
Duale Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart, Institut für angewandte Sozialwissenschaften, Steinbeis Innovation gGmbH an der DHBW Stuttgart
Dorothee Deterding, IfaS, Stuttgart


1. Zielsetzung/Fragestellung
Das Modellvorhaben Integrierte Demenzversorgung in Oberbayern (IDOB) hat zum Ziel, in den Modellregionen München-Ost (städtische Region) und Berchtesgadener Land (ländliche Region) eine am individuellen Versorgungsbedarf der Demenzkranken ausgerichtete engmaschige und aufeinander abgestimmte Versorgung durch einen Versorgungsverbund aufzubauen, weiterzuentwickeln und diesen Prozess zu evaluieren. Bei positiven Evaluationsergebnissen ist die langfristige Sicherung der vernetzten Versorgungsstrukturen im Versorgungssystem im Rahmen eines Vertrages zur Integrierten Versorgung für Menschen mit demenziellen Erkrankungen beabsichtigt.
Die Laufzeit der Modellerprobung beträgt 23 Monate (01.04.2008-28.02.2010). Projektpartner sind: Isar-Amper-Klinikum gGmbH, Inn-Salzach-Klinikum gGmbH, Kliniken des Bezirks Oberbayern – Kommunalunternehmen, Managementholding gGmbH, Projekteverein gGmbH; hinzu kommen Kooperationspartner in der Demenzversorgung.

2. Materialien/Methoden
Das Evaluationsvorhaben ist als gesundheitsökonomische Implementierungsstudie angelegt. Die wissenschaftliche Begleitforschung ist darauf ausgerichtet, durch eine Kombination quantitativer und qualitativer sozialwissenschaftlicher Datenerhebungsmethoden belastbare Ergebnisse zu gewinnen, die Erkenntnisse über Erfolge in der integrierten Versorgung Demenzkranker, Veränderungen in der Versorgungsqualität, förderliche und hemmende Transferparameter, Stadt-Land-Unterschiede sowie die Kostenstruktur liefern.

3. Zwischenergebnisse
Begünstigende Transferparameter:
• Eine Integrierte Demenzversorgung wie IDOB setzt an vorhandenen Versorgungsstrukturen an und entwickelt regionale Versorgungsstrukturen weiter.
• IDOB schließt eine zentrale Versorgungslücke in der Demenzversorgung: die fehlenden aufsuchenden Hilfen.
• Auf der individuellen Ebene ist zumindest bei Behandlungsbeginn ein professionelles Case Management die Schlüsselvariable!
• Finanzielle Ressourcen sind für den Erfolg des Verbundaufbaus und der Inanspruchnahme von Angeboten entscheidend.
• Auf der strukturellen Ebene ist das Verbundmanagement die Schlüsselvariable.
Hemmende Transferparameter:
• Als problematisch erweist sich in beiden Modellregionen, dass die VerbundärztInnen aufgrund ihrer Anbindung an die psychiatrischen Kliniken und die Tätigkeit in der Institutsambulanz von den niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen als Konkurrenz gesehen werden.
• In beiden Modellregionen haben sich fehlende Fahrdienste bzw. die fehlende Übernahme dieser Kosten als Hemmnis für eine Inanspruchnahme von Dienstleistungen herausgestellt.
• Eine Besonderheit von IDOB ist die Verbindung von Case- und Verbundmanagement in Personalunion. Dabei wurde die Komplexität der Aufgaben deutlich unterschätzt.
• In diesem Zusammenhang ist ebenfalls offensichtlich, dass die zu versorgende PatientInnenmenge von 100 DemenzpatientInnen pro Modellregion von einer Person nicht leistbar ist.
• Die Vereinigung von Case- und Verbundmanagement in einer Person, wie es bei IDOB der Fall ist, verlangt ein hohes Maß unterschiedlichster Kompetenzen. Die Funktion des Case Managements wird in verschiedenen Ausbildungsgängen curricular bearbeitet. Was fehlt, sind Qualifizierungsmöglichkeiten für ein professionelles Verbundmanagement bzw. weitergehend, für eine professionelle Versorgungsgestaltung.

4. Zusammenfassung/Schlussfolgerung
Gerade im Falle schwieriger gesundheitlicher Versorgungslagen, wie sie eine Demenzerkrankung darstellt, zeigen sich allzu deutlich die Grenzen von Marktlogiken und die Brüchigkeit des Gesundheitssystems. Das ‚Leuchtturmprojekt Demenz’ Integrierte Demenzversorgung in Oberbayern führt eindringlich die Vielschichtigkeit und Komplexität moderner Versorgungsproblematiken vor Augen: Soziale Hilfe und Unterstützung ist nur dann zielgerichtet und wirkungsvoll, wenn sie sowohl die individuelle Lebenslage und den Unterstützungsbedarf berücksichtigt als auch die entsprechenden Versorgungsmöglichkeiten im System auszuloten vermag, und darüber hinaus in regionalen Versorgungsstrukturen vernetzt ist.
Demenzversorgung integriert denken bedeutet zunächst, in einem wettbewerblich strukturierten Gesundheitswesen Position für die PatientInnen zu beziehen und mitzuhelfen, wirkende Mechanismen aufzudecken, um dann in einem nächsten Schritt an den Schnittstellen und Sektorengrenzen zu vermitteln und praktikable Wege für eine konstruktive Zusammenarbeit aufzuzeigen. Hierfür ist IDOB ein Referenzmodell erster Güte, da in ganz unterschiedlichen Modellregionen dieser Schritt hin zu einer konzertierten Zusammenarbeit im Versorgungsverbund gewagt wird.
Die Stärke der Modellerprobung liegt in der Verstetigung der konzeptionellen Elemente auf allen Ebenen: in der hochwertigen medizinischen und psychosozialen Begleitung der PatientInnen und deren Angehörigen in einer schwierigen Lebenssituation ebenso wie in der kontinuierlichen Netzwerkkonfiguration und einer strukturellen Verankerung im Gemeinwesen. Um diese Versorgungsnotwendigkeiten auch in einem realistischen Finanzierungsmodell abzubilden, bedarf es einer konzertierten Zusammenarbeit unterschiedlicher Kosten- und Leistungsträger (Krankenkassen, Pflegekassen, Bezirk, Kommune).

 

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