Die Zukunft der Demenz

Alexander Kurz,
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Technische Universität München


Die steigende Zahl der Krankheitsfälle, die verbesserten Möglichkeiten der Früherkennung und die Entwicklung verlaufsverzögernder Medikamente werden in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zu einem Wandel des medizinische Denkens und Handelns auf dem Gebiet der kognitiven Störungen einschließlich der Demenz führen.

Die stetig zunehmende Langlebigkeit der Bevölkerung hat zur Folge, dass immer mehr Menschen über einen immer längeren Zeitraum in ihrem letzten Lebensabschnitt von kognitiven Einschränkungen betroffen sind. Kognitive Beeinträchtigung und Demenz entwickeln sich vom medizinischen Störungsfall zu einer erwartbaren Phase der Biographie. Gleichzeitig werden sich die informellen Versorgungsbedingungen für die Betroffenen durch den Zerfall der Familienverbände, die zunehmende Mobilität der Erwerbstätigen und die wachsende Zahl berufstätiger Frauen dramatisch verschlechtern.

Die Fortschritte der Diagnostik bewirken in Verbindung mit der wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit gegenüber kognitiven Störungen im Alter, dass die zu einer Demenz führenden Krankheiten bereits im Stadium geringfügiger Funktionseinschränkungen erkannt werden können. In diesem Verlaufsabschnitt verfügen die Patienten über einen Teil ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit und Alltagskompetenz, erfüllen also keineswegs die wörtliche Bedeutung des Begriffs „Demenz“. Daraus folgt die Notwendigkeit, für die nosologische Kategorie der alltagsrelevanten, mehrere Funktionsbereiche erfassenden Hirnleistungsstörung ohne Bewusstseinstrübung sowie für deren leichtgradige Ausprägungsformen neue diagnostische Termini einzuführen und die Anwendung des Begriffs „Demenz“ auf die schweren Grade zu beschränken.

Die Früherkennung eröffnet die Möglichkeit, mit pharmakologischen Interventionen das Fortschreiten des Krankheitsprozesses zu verlangsamen und das Eintreten von Demenz, Behinderung und Pflegebedürftigkeit im Sinne einer sekundären Prävention hinaus zu schieben. Durch die Anwendung derartiger Substanzen wird sich der Zeitraum verlängern, während dessen die Betroffenen über partiell erhaltene Fähigkeiten verfügen, so dass sie sich aktiv mit ihrer Erkrankung auseinander setzen und wirksame Strategien zur Problembewältigung erlernen können. Die Anwendung solcher Strategien setzt einen Wandel des Patientenbildes voraus. So lange wie möglich müssen die Betroffenen als eigenständige, entscheidungsfähige und selbstverantwortliche Individuen verstanden und behandelt werden. Parallel dazu muss das Handlungsmodell der Gestaltung eines Lebensabschnitts unter der Bedingung von kognitiven Einschränkungen die herkömmlichen Paradigmen von Versorgung und Pflege ergänzen. Das Potenzial individuell angepasster rehabilitativer Interventionen ist bei diesen Formen der kognitiven Störung bisher völlig unausgeschöpft.

Die Befragung von Patienten mit leichtgradigen, jedoch fortschreitenden kognitiven Störungen hat gezeigt, dass die Fortsetzung des persönlichen Lebensstils, Aktivität und Teilhabe sowie die Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen wesentliche Elemente ihrer Lebensqualität darstellen. Um diesen Bedürfnissen auch unter den Bedingungen des demographischen Wandels gerecht zu werden, bedarf es der Schaffung von neuen Wohnformen, der Eröffnung von leistungs- und persönlichkeitsgerechten Tätigkeitsfeldern,
sowie der Entwicklung von praktisch einsetzbaren technischen Lebenshilfen.

Maßnahmen zur gezielten Prävention kogntiver Störungen sind aus heutiger Sicht noch in weiter Ferne. Sie müssten bei symptomfreien Personen mit hohem Erkrankungsrisiko über einen langen Zeitraum eingesetzt werden. Hierfür kommen möglicherweise nicht nur Medikamente in Frage, deren Wirkung sich auf bestimmte Facetten des pathologischen Prozesses bezieht. Ebenso wichtig könnte es sein, die Plastizität des Gehirns und seine Widerstandsfähigkeit gegenüber krankhaften Veränderungen im Alter durch systematische Beeinflussung von Faktoren des Lebensstils wie geistige Regsamkeit, Ernährung oder körperliche Aktivität zu stärken.

 

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